Eine Analyse
des Agrarzensus 2006 (aus Brasilicum Januar 2010)
VON FREI SÉRGIO
ANTÔNIO GÖRGEN, MITARBEITER DER KLEINBAUERNBEWEGUNG MPA UND VON VIA
CAMPESINA BRASIL - ADITAL - 23.12. 2009 - ÜBERSETZUNG FÜR KOBRA AUS
DEM BRASILIANISCHEN PORTUGIESISCH VON GILBERTO CALCAGNOTTO
Alle zehn Jahre führt
das Brasilianische Bundesamt für Geografie und Statistik IBGE
mithilfe einer Befragung von Haustür zu Haustür eine Erhebung der
Lebens- und Produktionsbedingungen im Agrarsektor durch.
Der letzte
Agrarzensus wurde im Jahr 2006 durchgeführt und 2009 veröffentlicht.
Die Erhebung liefert ein Spiegelbild, eine Fotografie des Lebens und
der Produktion auf dem Land. Damit wird es möglich, einen Vergleich
zwischen Groß- und Kleinbauern, zwischen Agrobusiness und
kleinbäuerlicher Landwirtschaft zu ziehen und die Unterschiede
wahrzunehmen.
Im Folgenden werden
die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst:
1. Grundeigentum und
Grundbesitz:
Auf die Kleinbauern entfallen 24% aller in privater
Hand befindlichen Grundbesitze Brasiliens. Dies bedeutet, dass von
je 100 ha 24 auf Kleinbauern, 76% aber auf Mittel- und Großbauern
entfallen. Von je 100 ha gehören also 76 dem Agrobusiness.
2. Anzahl der
Agrarbetriebe:
Die Anzahl von kleinbäuerlichen Familienbetrieben
beläuft sich auf über 4.360.000, die der Mittel- und Großbetriebe
auf lediglich 807.000. Großbetriebe mit je mehr als 1.000 ha kommen
auf eine Gesamtzahl von nur 46.000. Auf die Großgrundbesitzer mit je
mehr als 2.000 ha entfallen nicht mehr als 15.000 Betriebe, die
jedoch immerhin 98 Millionen ha auf sich vereinen.
3. Was sie
produzieren:
Kleinbauern liefern wertmäßig 40% der gesamten
Agrarproduktion Brasiliens, obwohl sie nur 24% aller Ländereien
besitzen und über Böden mit schlechteren Standort- und
Ertragsbedingungen verfügen. Außerdem ist ein Großteil der
Kleinbauernproduktion, wie man weiß, für den Eigenbedarf bestimmt
und wird daher nicht zum Verkauf angeboten. Die Mittel- und
Großbauern erzeugen 60% der Agrarproduktion Brasiliens, obwohl sie
76% aller Landwirtschaftsflächen des Landes besitzen und deren Böden
ebener, fruchtbarer und marktnäher sind.
4. Wert der
Produktion je Hektar:
Kleinbauern erwirtschaften jährlich ein
Einkommen von R$ 677,00 pro Hektar, während das Agrobusiness
lediglich auf ein durchschnittliches Jahreseinkommen von R$ 368,00
je Hektar kommt.
5. Wer die Nahrung
der brasilianischen Bevölkerung produziert:
Von dem, was auf den
Tisch der brasilianischen Bevölkerung kommt, werden 70% von
Kleinbauern produziert und nur 30% von Großgrundbesitzern. Letztere
haben nicht die Produktion von Nahrungsmitteln im Sinn, sondern nur
die von "commodities" (Rohstoffe, Welthandelsprodukte für den
Export).
6. Arbeitsplätze für
die Bevölkerung:
Kleinbäuerliche Betriebe beschäftigen 74% der
gesamten ländlichen Arbeitskraft Brasiliens, Mittel- und
Großgrundbesitze - also das Agrobusiness - aber nur 26%, obwohl
letztere wesentlich mehr Agrarfläche besitzen. Der Grund ist, dass
ihre Produktionsweise einen intensiven Gebrauch von Maschinen und
zahlreichen Agrargiften erfordert. Deshalb wurde Brasilien im
Erntejahr 2008/2009 zum weltweit größten Konsumenten von
Agrargiften. Jährlich werden im Land 700 Millionen der Liter Gift
eingesetzt!
7. Beschäftigte je
Hektar:
In der kleinbäuerlichen Landwirtschaft arbeiten 15
Personen je 100 ha - im Agrobusiness lediglich zwei bzw. 1,7
Personen je Hektar im realen Durchschnitt.
8. Agrarkredite:
Die Agrarkredite werden vom Agrarzensus nicht wertmäßig ausgewiesen.
Dies geschieht im Rahmen des "Plano Safra" (Ernte-Plan). Demnach
wurden im Jahr 2009/2010 R$ 93 Milliarden für das Agrobusiness, für
die kleinbäuerliche Landwirtschaft nur R$ 15 Milliarden vorgesehen.
Doch bekanntlich haben nur 1,2 Millionen kleinbäuerliche
Agrarbetrieben Zugang zu Krediten, und im jüngsten Erntejahr nutzten
Kleinbauern nur 80% des verfügbaren Kreditvolumens. Mit anderen
Worten, die Kleinbauern nehmen nur 14% des gesamten Agrarkredites,
der von Banken entsprechend den Richtlinien und Verfügungen der
Bundesregierung angeboten wird, tatsächlich in Anspruch.
Zusammenfassende
Darstellung der beiden in Brasilien angewandten Agrarmodelle:
Perspektiven bei
Durchführung einer umfassenden Agrarreform
Die Zensusdaten vom
Jahr 2006 erlauben die Projektion einer neuen Situation für den
Fall, dass Brasilien eine umfassende Agrarreform zur
Demokratisierung von Grundeigentum und Grundbesitz durchführen und
eine Umorientierung der Agrarproduktion auf den Binnenmarkt
vornehmen sollte.
Zieht man nur
Agrarbetriebe mit mehr als 1.000 Hektar in Betracht, so kommt man
auf eine Gesamtzahl von nur 46.911 Betrieben. Auf diese aber
entfällt eine Gesamtfläche von 146.553.218 ha, durchschnittlich
3.125 ha je Agrarbetrieb.
Nun nehmen wir an,
die Ländereien dieser knapp 47.000 Großgrundbesitzer würde in gleich
große Parzellen von - sagen wir - 50 ha je Familie aufgeteilt. Wie
würde das Land dann aussehen? Es würden 2. 920.000 neue
landwirtschaftliche Betriebe, nahezu 3 Millionen neue
kleinbäuerliche Familienbetriebe entstehen.
Geht man davon aus,
dass jede kleinbäuerliche Produktionseinheit 15 Personen pro 100
Hektar beschäftigt, so würde eine solche Agrarreform mehr als 21
Millionen Arbeitsplätze schaffen - gegenüber nur zwei Millionen vom
Agrobusiness geschaffenen Arbeitsplätzen. Außerdem verdienen
Lohnarbeiter, die für das Agrobusiness arbeiten, lächerlich geringe
Löhne, die oft nur für temporäre Beschäftigungen und ohne Arbeits-
und Sozialrechte gezahlt werden.
Berücksichtigt man
die Tatsache, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft pro Hektar ein
mittleres jährliches Einkommen von R$ 677,00 erwirtschaftet, so
ergäbe sich aus der oben beschriebenen Agrarreform ein zusätzliches
Volkseinkommen im Wert von annähernd R$ 99 Milliarden jährlich.
Ein bloßer Vergleich
genügt: Großgrundbesitz und Agrobusiness bringen keine Vorteile für
die brasilianische Gesellschaft, weder im sozialen und ökonomischen
Sinn noch - viel weniger - im Sinne der ökologischen Nachhaltigkeit.
Die von ihnen angewandte Technologie ist aufgrund des intensiven
Einsatzes von Agrargiften in hohem Maße umweltschädlich.
Eine Agrarreform, die
nur die Agrarbetriebe mit mehr als 1.000 ha einbeziehen, die
mittleren aber verschonen würde, brächte viel mehr Arbeitsplätze,
Produktion, Einkommen und Entwicklung für alle Brasilianer.