Das Megaprojekt! Für wen fließt der Chico Velho?

Die brasilianische Regierung lässt auch nach andauernden Protesten gegen das Megaprojekt der Wasserableitung aus dem Rio São Francisco (RSF) nicht von ihren Ableitungsplänen ab. Mitte Juni begann das Militär mit vorbereitenden Maßnahmen für den Bau. Derzeit sind Teile des Ausschreibungsverfahrens jedoch auf unbestimmte Zeit ausgesetzt – und zwar aufgrund einen Rechtsstreits der an den Bauaufträgen interessierten Unternehmen.

Die Ableitungspläne

Das Ableitungsprojekt sieht vor, an zwei Stellen Wasser des RSF abzuzweigen, um es in die nördlichen Gebiete des semiariden Nordostens Brasiliens zu transponieren. Die Ableitung soll die künstlichen Stauseen im Nordosten mit zusätzlichem Wasser versorgen sowie nur temporär Wasser tragende Flüsse zu ganzjährigen Flüssen machen. Ein Kanal soll auf der Höhe von Cabrobó Wasser Richtung Nordnordosten in den Westen von Pernambuco, nach Ceará, Paraíba und Rio Grande do Norte ableiten. Die zweite Entnahmestelle soll vom Itaparica-Stausee aus Wasser durch das östliche Pernambuco führen. Beim Wassertransport sind 180 bzw. 300 Höhenmeter durch Pumpen zu überwinden, die mit Strom aus neuen Wasserkraftwerken entlang der Kanäle betrieben werden.

zum Bild: Baustelle (10.2013) der ersten gigantischen Pumpstation nahe Cabrobó

Beide Hauptkanäle zusammen genommen sollen kontinuierlich 26,4 m3 Wasser pro Sekunde und im Durchschnitt 63,5 m3 pro Sekunde ableiten. Die Kanäle werden allerdings für eine Entnahmekapazität von 127 m3 Wasser pro Sekunde gebaut, was befürchten lässt, dass auf lange Sicht auch die durchschnittlich abgezweigte Wassermenge erhöht werden soll. Denn beim derzeitigen Stand der Wasserkonzessionen ist eine Ausnutzung der Kapazitäten nur unter speziellen Bedingungen möglich, die nur etwa alle zwölf Jahre für wenige Tage eintreten, was die hohen Bau- und Unterhaltungskosten einer großen Anlage nicht rechtfertigen würde.

Die Regierung spricht von gut 1 % des Flusswassers, die das Ableitungsprojekt verbrauchen würde, was ihr zufolge den Fluss nicht beeinträchtigen wird. Doch seit Jahrzehnten sinkt der Flusspegel aufgrund der Übernutzung durch die Bewässerungslandwirtschaft und großflächigen Rodungen in der Region des Cerrado- Waldgebietes. Etliche Zuflüsse des RSF sind ausgetrocknet. Die zu erwartenden klimatischen Veränderungen werden diese Situation eher verschärfen.

Für das Projekt sind im PAC (Plan zur Beschleunigung des Wachstums) 6,6 Mrd. Reais vorgesehen, das entspricht gut 2,5 Mrd. Euro. Der Vize-Präsident José Alencar räumte jedoch bereits ein, dass die Ableitung bis zu ihrer Fertigstellung voraussichtlich 20 Mrd. Reais, also etwa 7,7 Mrd. Euro, verschlingen wird. Als hauptsächliches Refinanzierungsinstrument für die staatlichen Ausgaben sollen die Kosten auf die Wassernutzer umgelegt werden.

Vernünftiges wirtschaftliches Potential Erschließen

Das Ziel der Ableitung besteht nach Angaben der Regierung darin, die sozioökonomische Entwicklung der Region zu fördern. Dabei sollen explizit diejenigen Gebiete des inneren Nordostens profitieren, die ein „vernünftiges wirtschaftliches Potenzial“ aufweisen. Die Wirtschaftsprojekte sollen dann Einkommenseffekte für die Bevölkerung bewirken, und damit eine Entwicklung der Region in Gang bringen. Ganz im Sinne dieses Zieles sind 70 % der abgeleiteten Wassermenge für Bewässerungszwecke gedacht. 26 % bleiben für die Verbesserung der Wasserversorgung in den Städten, und nur 4 % für die Wasserversorgung der ländlichen Bevölkerung.

Die Grundbesitzstrukturen in Brasiliens Nordosten lassen breite Einkommenseffekte durch Bewässerungslandwirtschaft jedoch unwahrscheinlich erscheinen. Hauptprofiteure des Projekts wer- den nach Einschätzung von Ruben Siqueira, dem Koordinator der CPT in Sachen RSF, zum einen die extrem viel Wasser verbrauchende Stahlindustrie Fortalezas sein, zum anderen die exportorientierte Fruchtanbau- und die Garnelenzuchtbranche in den Mangrovengebieten sowie die Zucker- und Ethanolbarone des Nordostens. Gerade Geschäftszweige wie die Zuckerrohrproduktion haben sich in der Vergangenheit in keinster Weise um Einkommenszuwächse breiter Teile der Bevölkerung verdient gemacht. Der derzeitige Ethanolboom birgt im Gegenteil die Gefahr, weitere Landkonzentrationen und Landkonflikte zum Nachteil der kleinbäuerlichen Familienwirtschaft hervorzurufen. Selbst die Weltbank lehnte die Finanzierung des Ableitungsprojekts ab, da die internationale Erfahrung nahe lege, dass der Beitrag zur Armutsminderung gering sei und das Projekt eine kommerzielle Orientierung habe.

Dem Bau der Kanäle sollen zudem schätzungsweise 26.000 zumeist arme Familien weichen. Immerhin hat die Regierung versprochen, das Landeigentum der häufig nicht über Landtitel verfügenden Menschen zu regularisieren. Ansonsten hätten die Familien nicht einmal Anspruch auf eine Entschädigung, sondern würden einfach vertrieben.

Mächtige Akteure – große Projekte

Die derzeitigen Interessen an dem Projekt gehen zurück in die 80er Jahre auf das cearensische Entwicklungsprojekt der Gruppe um Ciro Gomes und Tasso Jereissati, die damals die politische Macht in Ceará übernahm. Fortaleza sollte zur Exportstadt ausgebaut werden, mit einer Agroindustrie im Hinterland, dem Bau des Hafens von Pecem und der Ansiedlung einer Eisen– und Stahlindustrie; später kam noch die Garnelenproduktion hinzu. Alle diese wirtschaftlichen Tätigkeiten brauchen viel Wasser, das zunächst durch den Castanhão-Stausee geliefert wurde. Die Idee, dass der Stausee Wasser aus dem RSF erhalten sollte, um das Industrieprojekt langfristig am Laufen halten zu können, stand bereits am Beginn des Projekts. Als Lula gewählt wurde, war er auf die Allianz mit der politischen Oligarchie in Ceará angewiesen. Roberto Malvezzi, Koordinator der CPT Bahia, geht daher davon aus, dass der brasilianische Präsident politische Unterstützung im Tausch gegen die Umsetzung des Transpositions-Projekts erhielt.

Auch Luiz Carlos Correa Soares, Ingenieur und Berater des Nationalen Rates der Ernährungs- und Nahrungsmittelsicherheit, CONSEA, kommt zu dem Schluss, dass starke politische, ökonomische und korporative Interessen hinter dem Ableitungsprojekt stehen. Hierbei bezieht er sich sowohl auf die Exportindustrie als auch auf Unternehmenszusammenschlüsse, die in erster Linie am Ableitungsprojekt selbst verdienen.

Letzteres wird derzeit anschaulich durch die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen den am Ableitungsprojekt interessierten Bauunternehmen illustriert. Das Ausschreibungsverfahren für die Bauarbeiten ist seit Ende Juli durch richterlichen Beschluss teilweise ausgesetzt, denn das Konsortium Construtor Águas do São Francisco hatte gegen den Baugiganten Norberto Odebrecht und das Integrationsministerium geklagt: Offensichtlich hatten die großen Baufirmen den Transpositions-Kuchen bereits unter sich aufgeteilt, als sich herausstellte, dass sich noch 20 weitere Baufirmen an der Ausschreibung beteiligen würden. Daraufhin wurden nach Intervention der Norberto Odebrecht beim Integrationsministerium die Ausschreibungskriterien noch einmal verändert, was zum Ausschluss kleinerer Baufirmen, darunter des genannten Konsortiums, geführt hatte.

Große Projekte – mächtige Akteure.
Ein Becher Wasser für den armen Bruder im Nordosten

Zwar macht das Integrationsministerium keinen Hehl daraus, dass das Ableitungsprojekt vor allem wirtschaftlichen Zwecken dienen soll, doch ist der Fokus seiner Öffentlichkeitsarbeit ein anderer: Die Ableitung wird in erster Linie als ein Akt der Solidarität dargestellt, mit dem die Regierung doch nur dem durstenden Bruder im Nordosten einen Becher Wasser reichen möchte. Durch das Projekt, so die Regierung, könnten angeblich 12 Millionen Menschen mit Wasser versorgt werden. Doch das ist selbst dem brasilianischen Bundesrechnungshof TCU (Tribunal de Contas da União) zu hoch gegriffen.

Bezeichnend ist, dass das Ableitungsprojekt gar keine Pläne enthält, wie das Wasser bei der Bevölkerung ankommen soll. Die Bereitstellung der Versorgungssysteme nämlich liegt in der Kompetenz der Bundesstaaten, und ist daher aus Sicht der Zentralregierung gar nicht Teil des Projekts. Das bedeutet: Das Wasser kommt im Zweifelsfalle niemals bei den von der Projektprosa angepriesenen Begünstigten an. Denn die Bundesstaaten müssen bereits die Unterhaltungskosten des Ableitungssystems in Höhe von schätzungsweise 80-100 Mio. Reais (etwa 30-40 Mio. Euro) jährlich untereinander aufteilen. Wie sie dann noch den Aufbau eines Wasserverteilungssystems – das sie sich offensichtlich in der Vergangenheit nie leisten konnten – für insgesamt 13,4 Mrd. Reais (5 Mrd. Euro) aufbringen wollen, steht in den Sternen. Mit den jährlichen 20 Mio. R$ (7,7 Mio. Euro), zu denen sich die Bundesstaaten verpflichtet haben, ist ein Wasserverteilungssystem jedenfalls nicht aufzubauen. Auch gesteht das Integrationsministerium selbst ein, dass die weit verstreute ländliche Bevölkerung im brasilianischen Nordosten besser mit Zisternen versorgt wäre: „Das Sammeln von Regenwasser in Zisternen sichert Trinkwasser in den ländlichen Gebieten für die disperse Bevölkerung, für die sich im allgemeinen aus Kostengründen keine langen Wasserleitungen lohnen“. Man kann also zwischen den Zeilen bereits lesen, dass an eine flächendeckende Wasserversorgung durch das Ableitungsprojekt gar nicht gedacht ist.

Ginge es wirklich um die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung, müsste der Aufbau eines Verteilungssystems schon heute ein vorrangiges Projekt sein. Denn das Problem der Trinkwasserversorgung im brasilianischen Nordosten liegt vor allem im unzureichenden Wassermanagement und den derzeitigen Versorgungsprioritäten begründet. Tatsächlich gibt es weit günstigere und effektivere Alternativen zur Ableitung. Aus einer Studie der nationalen Wasserbehörde ANA vom vergangenen Dezember geht hervor, dass dezentrale Maßnahmen mit einem Investitionsvolumen von 3,6 Mrd. R$ (1,4 Mrd. Euro) etwa 34 Millionen Menschen im Nordosten mit Wasser versorgen könnten – damit würden bei einem Bruchteil der Kosten des Ableitungsprojekts dreimal mehr Menschen profitieren, als die Ableitung anvisiert. Und so schlagen auch die sozialen Bewegungen, die sich in einem breiten Widerstandsbündnis gegen das Ableitungsprojekt und für die Revitalisierung des RSF zusammen geschlossen haben, eine Kombination verschiedener Maßnahmen vor: die bestehenden Stauseen für die Trinkwasserversorgung der Anrainer zu nutzen und das gespeicherte Wasser effektiv zu verwenden, das Grundwasser durch Brunnen zu nutzen und unterirdisch aufzustauen, und nicht zuletzt Regenwasser in Zisternen aufzufangen – Maßnahmen, die tatsächlich die Bevölkerung erreichen würden. Diese Projekte könnten zudem kleine lokale Unternehmen durchführen, die damit mehr zu der versprochenen nachhaltigen Entwicklung des Gebietes beitragen könnten als Baugiganten, Stahlindustrie und Zuckerbarone.

Insgesamt lässt das Projekt aufgrund seiner enormen Bau- und Bewirtschaftungskosten einen sehr hohen Endverbraucherpreis erwarten. Die – wenn überhaupt – „begünstigten“ durstigen Brüder und Schwestern im Nordosten, die auf viel einfachere Weise mit Wasser versorgt werden könnten, zahlen so den Preis für die Bewässerung der Exportprodukte gleich mit. Der brasilianische Staat finanziert damit ein weiteres Megaprojekt, dessen Kosten alle tragen müssen, von dessen Bau aber nur Wenige wirklich profitieren.

  FÜR KOBRA VON KIRSTEN BREDENBECK, SEPTEMBER 2007