Die brasilianische
Regierung lässt auch nach andauernden Protesten gegen das
Megaprojekt der Wasserableitung aus dem Rio São Francisco (RSF)
nicht von ihren Ableitungsplänen ab. Mitte Juni begann das Militär
mit vorbereitenden Maßnahmen für den Bau. Derzeit sind Teile des
Ausschreibungsverfahrens jedoch auf unbestimmte Zeit ausgesetzt –
und zwar aufgrund einen Rechtsstreits der an den Bauaufträgen
interessierten Unternehmen.
Die
Ableitungspläne
Das Ableitungsprojekt
sieht vor, an zwei Stellen Wasser des RSF abzuzweigen, um es in die
nördlichen Gebiete des semiariden Nordostens Brasiliens zu
transponieren. Die Ableitung soll die künstlichen Stauseen im
Nordosten mit zusätzlichem Wasser versorgen sowie nur temporär
Wasser tragende Flüsse zu ganzjährigen Flüssen machen. Ein Kanal
soll auf der Höhe von Cabrobó Wasser Richtung Nordnordosten in den
Westen von Pernambuco, nach Ceará, Paraíba und Rio Grande do Norte
ableiten. Die zweite Entnahmestelle soll vom Itaparica-Stausee aus
Wasser durch das östliche Pernambuco führen. Beim Wassertransport
sind 180 bzw. 300 Höhenmeter durch Pumpen zu überwinden, die mit
Strom aus neuen Wasserkraftwerken entlang der Kanäle betrieben
werden.
Beide Hauptkanäle
zusammen genommen sollen kontinuierlich 26,4 m3 Wasser pro Sekunde
und im Durchschnitt 63,5 m3 pro Sekunde ableiten. Die Kanäle werden
allerdings für eine Entnahmekapazität von 127 m3 Wasser pro Sekunde
gebaut, was befürchten lässt, dass auf lange Sicht auch die
durchschnittlich abgezweigte Wassermenge erhöht werden soll. Denn
beim derzeitigen Stand der Wasserkonzessionen ist eine Ausnutzung
der Kapazitäten nur unter speziellen Bedingungen möglich, die nur
etwa alle zwölf Jahre für wenige Tage eintreten, was die hohen Bau-
und Unterhaltungskosten einer großen Anlage nicht rechtfertigen
würde.
Die Regierung spricht
von gut 1 % des Flusswassers, die das Ableitungsprojekt verbrauchen
würde, was ihr zufolge den Fluss nicht beeinträchtigen wird. Doch
seit Jahrzehnten sinkt der Flusspegel aufgrund der Übernutzung durch
die Bewässerungslandwirtschaft und großflächigen Rodungen in der
Region des Cerrado- Waldgebietes. Etliche Zuflüsse des RSF sind
ausgetrocknet. Die zu erwartenden klimatischen Veränderungen werden
diese Situation eher verschärfen.
Für das Projekt sind
im PAC (Plan zur Beschleunigung des Wachstums) 6,6 Mrd. Reais
vorgesehen, das entspricht gut 2,5 Mrd. Euro. Der Vize-Präsident
José Alencar räumte jedoch bereits ein, dass die Ableitung bis zu
ihrer Fertigstellung voraussichtlich 20 Mrd. Reais, also etwa 7,7
Mrd. Euro, verschlingen wird. Als hauptsächliches
Refinanzierungsinstrument für die staatlichen Ausgaben sollen die
Kosten auf die Wassernutzer umgelegt werden.
Vernünftiges
wirtschaftliches Potential Erschließen
Das Ziel der
Ableitung besteht nach Angaben der Regierung darin, die
sozioökonomische Entwicklung der Region zu fördern. Dabei sollen
explizit diejenigen Gebiete des inneren Nordostens profitieren, die
ein „vernünftiges wirtschaftliches Potenzial“ aufweisen. Die
Wirtschaftsprojekte sollen dann Einkommenseffekte für die
Bevölkerung bewirken, und damit eine Entwicklung der Region in Gang
bringen. Ganz im Sinne dieses Zieles sind 70 % der abgeleiteten
Wassermenge für Bewässerungszwecke gedacht. 26 % bleiben für die
Verbesserung der Wasserversorgung in den Städten, und nur 4 % für
die Wasserversorgung der ländlichen Bevölkerung.
Die
Grundbesitzstrukturen in Brasiliens Nordosten lassen breite
Einkommenseffekte durch Bewässerungslandwirtschaft jedoch
unwahrscheinlich erscheinen. Hauptprofiteure des Projekts wer- den
nach Einschätzung von Ruben Siqueira, dem Koordinator der CPT in
Sachen RSF, zum einen die extrem viel Wasser verbrauchende
Stahlindustrie Fortalezas sein, zum anderen die exportorientierte
Fruchtanbau- und die Garnelenzuchtbranche in den Mangrovengebieten
sowie die Zucker- und Ethanolbarone des Nordostens. Gerade
Geschäftszweige wie die Zuckerrohrproduktion haben sich in der
Vergangenheit in keinster Weise um Einkommenszuwächse breiter Teile
der Bevölkerung verdient gemacht. Der derzeitige Ethanolboom birgt
im Gegenteil die Gefahr, weitere Landkonzentrationen und
Landkonflikte zum Nachteil der kleinbäuerlichen Familienwirtschaft
hervorzurufen. Selbst die Weltbank lehnte die Finanzierung des
Ableitungsprojekts ab, da die internationale Erfahrung nahe lege,
dass der Beitrag zur Armutsminderung gering sei und das Projekt eine
kommerzielle Orientierung habe.
Dem Bau der Kanäle
sollen zudem schätzungsweise 26.000 zumeist arme Familien weichen.
Immerhin hat die Regierung versprochen, das Landeigentum der häufig
nicht über Landtitel verfügenden Menschen zu regularisieren.
Ansonsten hätten die Familien nicht einmal Anspruch auf eine
Entschädigung, sondern würden einfach vertrieben.
Mächtige
Akteure – große Projekte
Die derzeitigen
Interessen an dem Projekt gehen zurück in die 80er Jahre auf das
cearensische Entwicklungsprojekt der Gruppe um Ciro Gomes und Tasso
Jereissati, die damals die politische Macht in Ceará übernahm.
Fortaleza sollte zur Exportstadt ausgebaut werden, mit einer
Agroindustrie im Hinterland, dem Bau des Hafens von Pecem und der
Ansiedlung einer Eisen– und Stahlindustrie; später kam noch die
Garnelenproduktion hinzu. Alle diese wirtschaftlichen Tätigkeiten
brauchen viel Wasser, das zunächst durch den Castanhão-Stausee
geliefert wurde. Die Idee, dass der Stausee Wasser aus dem RSF
erhalten sollte, um das Industrieprojekt langfristig am Laufen
halten zu können, stand bereits am Beginn des Projekts. Als Lula
gewählt wurde, war er auf die Allianz mit der politischen Oligarchie
in Ceará angewiesen. Roberto Malvezzi, Koordinator der CPT Bahia,
geht daher davon aus, dass der brasilianische Präsident politische
Unterstützung im Tausch gegen die Umsetzung des
Transpositions-Projekts erhielt.
Auch Luiz Carlos
Correa Soares, Ingenieur und Berater des Nationalen Rates der
Ernährungs- und Nahrungsmittelsicherheit, CONSEA, kommt zu dem
Schluss, dass starke politische, ökonomische und korporative
Interessen hinter dem Ableitungsprojekt stehen. Hierbei bezieht er
sich sowohl auf die Exportindustrie als auch auf
Unternehmenszusammenschlüsse, die in erster Linie am
Ableitungsprojekt selbst verdienen.
Letzteres wird
derzeit anschaulich durch die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen
den am Ableitungsprojekt interessierten Bauunternehmen illustriert.
Das Ausschreibungsverfahren für die Bauarbeiten ist seit Ende Juli
durch richterlichen Beschluss teilweise ausgesetzt, denn das
Konsortium Construtor Águas do São Francisco hatte gegen den
Baugiganten Norberto Odebrecht und das Integrationsministerium
geklagt: Offensichtlich hatten die großen Baufirmen den
Transpositions-Kuchen bereits unter sich aufgeteilt, als sich
herausstellte, dass sich noch 20 weitere Baufirmen an der
Ausschreibung beteiligen würden. Daraufhin wurden nach Intervention
der Norberto Odebrecht beim Integrationsministerium die
Ausschreibungskriterien noch einmal verändert, was zum Ausschluss
kleinerer Baufirmen, darunter des genannten Konsortiums, geführt
hatte.
Zwar macht das
Integrationsministerium keinen Hehl daraus, dass das
Ableitungsprojekt vor allem wirtschaftlichen Zwecken dienen soll,
doch ist der Fokus seiner Öffentlichkeitsarbeit ein anderer: Die
Ableitung wird in erster Linie als ein Akt der Solidarität
dargestellt, mit dem die Regierung doch nur dem durstenden Bruder im
Nordosten einen Becher Wasser reichen möchte. Durch das Projekt, so
die Regierung, könnten angeblich 12 Millionen Menschen mit Wasser
versorgt werden. Doch das ist selbst dem brasilianischen
Bundesrechnungshof TCU (Tribunal de Contas da União) zu hoch
gegriffen.
Bezeichnend ist, dass
das Ableitungsprojekt gar keine Pläne enthält, wie das Wasser bei
der Bevölkerung ankommen soll. Die Bereitstellung der
Versorgungssysteme nämlich liegt in der Kompetenz der Bundesstaaten,
und ist daher aus Sicht der Zentralregierung gar nicht Teil des
Projekts. Das bedeutet: Das Wasser kommt im Zweifelsfalle niemals
bei den von der Projektprosa angepriesenen Begünstigten an. Denn die
Bundesstaaten müssen bereits die Unterhaltungskosten des
Ableitungssystems in Höhe von schätzungsweise 80-100 Mio. Reais (etwa
30-40 Mio. Euro) jährlich untereinander aufteilen. Wie sie dann noch
den Aufbau eines Wasserverteilungssystems – das sie sich
offensichtlich in der Vergangenheit nie leisten konnten – für
insgesamt 13,4 Mrd. Reais (5 Mrd. Euro) aufbringen wollen, steht in
den Sternen. Mit den jährlichen 20 Mio. R$ (7,7 Mio. Euro), zu denen
sich die Bundesstaaten verpflichtet haben, ist ein
Wasserverteilungssystem jedenfalls nicht aufzubauen. Auch gesteht
das Integrationsministerium selbst ein, dass die weit verstreute
ländliche Bevölkerung im brasilianischen Nordosten besser mit
Zisternen versorgt wäre: „Das Sammeln von Regenwasser in Zisternen
sichert Trinkwasser in den ländlichen Gebieten für die disperse
Bevölkerung, für die sich im allgemeinen aus Kostengründen keine
langen Wasserleitungen lohnen“. Man kann also zwischen den Zeilen
bereits lesen, dass an eine flächendeckende Wasserversorgung durch
das Ableitungsprojekt gar nicht gedacht ist.
Ginge es wirklich um
die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung, müsste der Aufbau eines
Verteilungssystems schon heute ein vorrangiges Projekt sein. Denn
das Problem der Trinkwasserversorgung im brasilianischen Nordosten
liegt vor allem im unzureichenden Wassermanagement und den
derzeitigen Versorgungsprioritäten begründet. Tatsächlich gibt es
weit günstigere und effektivere Alternativen zur Ableitung. Aus
einer Studie der nationalen Wasserbehörde ANA vom vergangenen
Dezember geht hervor, dass dezentrale Maßnahmen mit einem
Investitionsvolumen von 3,6 Mrd. R$ (1,4 Mrd. Euro) etwa 34
Millionen Menschen im Nordosten mit Wasser versorgen könnten – damit
würden bei einem Bruchteil der Kosten des Ableitungsprojekts dreimal
mehr Menschen profitieren, als die Ableitung anvisiert. Und so
schlagen auch die sozialen Bewegungen, die sich in einem breiten
Widerstandsbündnis gegen das Ableitungsprojekt und für die
Revitalisierung des RSF zusammen geschlossen haben, eine Kombination
verschiedener Maßnahmen vor: die bestehenden Stauseen für die
Trinkwasserversorgung der Anrainer zu nutzen und das gespeicherte
Wasser effektiv zu verwenden, das Grundwasser durch Brunnen zu
nutzen und unterirdisch aufzustauen, und nicht zuletzt Regenwasser
in Zisternen aufzufangen – Maßnahmen, die tatsächlich die
Bevölkerung erreichen würden. Diese Projekte könnten zudem kleine
lokale Unternehmen durchführen, die damit mehr zu der versprochenen
nachhaltigen Entwicklung des Gebietes beitragen könnten als
Baugiganten, Stahlindustrie und Zuckerbarone.
Insgesamt lässt das
Projekt aufgrund seiner enormen Bau- und Bewirtschaftungskosten
einen sehr hohen Endverbraucherpreis erwarten. Die – wenn überhaupt
– „begünstigten“ durstigen Brüder und Schwestern im Nordosten, die
auf viel einfachere Weise mit Wasser versorgt werden könnten, zahlen
so den Preis für die Bewässerung der Exportprodukte gleich mit. Der
brasilianische Staat finanziert damit ein weiteres Megaprojekt,
dessen Kosten alle tragen müssen, von dessen Bau aber nur Wenige
wirklich profitieren.
FÜR KOBRA VON
KIRSTEN BREDENBECK, SEPTEMBER 2007